Halabdscha

In Erinnerung an den Giftgasangriff auf irakische KurdInnen

16. März 1988, der irakische Giftgasangriff auf die kurdische Stadt Halabdscha tötet gezielt wahllos jegliches menschliche Leben. Zu leicht gerät die deutsche Verwicklung in das unfassbare Verbrechen in Vergessenheit.

In der Türkei und bei vielen Kurdinnen und Kurden gibt es einen Begriff für das, was in Halabdscha passiert ist: „elmar kokosu“ – „Der Geruch von Äpfeln“. Es war genau dieses Aroma, dass die Überlebenden am 16. März 1988 als erstes in der Nase und auf der Zunge hatten, als sie ihre Schutzräume und Keller verließen. „Anfangs roch es wie vergorener Müll, dann entfaltete sich ein Duft wie von süßen Äpfeln“ berichtete ein Überlebender.

Der Giftgasangriff geschah am Mittag bzw. frühen Nachmittag. Zuvor hatte den ganzen Morgen die irakische Luftwaffe die Stadt bombardiert. Halabdscha war unmittelbare Frontlinie und noch wenige Tage zuvor waren iranische Truppen in der Stadt gewesen. Die Kurden selbst wurden als Kollaborateure mit dem Kriegsgegner Iran bezeichnet. „Vernichtet sie“ lautete einer der Marschbefehle, der später rekonstruiert werden konnte.

Am Mittag des 16. März hörte der offene Beschuss auf. In den USA hergestellte Bell-Hubschrauber, die dem Irak 1983 „zu zivilen Zwecken“ geliefert worden waren, flogen über der Stadt und warfen größere Mengen kleine Zettel ab. Aber darauf war keine Warnung geschrieben. Damit wurde die Windrichtung getestet. Nicht umsonst hat man den Irakis unter Saddam Hussein immer nachgesagt, sie seien die Preußen des Nahen Ostens. Was man tut, wurde berechnet und geplant.

In Halabdscha sollte niemand entkommen

Als der Wind offenbar gut stand, hörten die Überlebenden, wie mit einem leichten Klacken Metallkanister auf den Häuserdächern und in den Straßen aufschlugen. Das waren die Gasgranaten. Es war Sarin, Senfgas und der Nervenkampfstoff VX. Das Gas war schwerer als die Luft, d.h. es sammelte sich am Boden, in den Kellern, dort wo die Bevölkerung zuvor vor den Bomben Zuflucht gesucht hatte.

Die Augen wurden rot, dann folgten Hustenkrämpfe, Schnappatmung, irgendwann fielen die Menschen einfach um. Wer sich auf die naheliegenden Hügel retten wollte, rannte direkt in seinen Tod. Perfiderweise hatten Hubschrauberpiloten das Gas auch an den nahen Hängen abgeworfen, wissend, dass sich die tödliche Wolke langsam ins Tal, in die Stadt wälzen würde. Niemand sollte entkommen.

Der türkische Fotograf Ramazan Öztürk war der erste Journalist, der Halabdscha erreichte. Er beschrieb in diesem Frühjahr in einem Interview in einer türkischen Zeitung die Szenerie, die ihn bis heute nicht loslässt:

„Wir kamen 24 Stunden nach dem Angriff in die Stadt. Es war geradezu lautlos. Keine Vögel, keine Tiere. Nichts Lebendiges war zu sehen. Die Straßen waren mit Leichen bedeckt. Ich sah Säuglinge, die in den Armen ihrer toten Mutter lagen. Ich sah Kinder, die im Todeskampf ihren Vater umarmt hatten. Während des Fotografierens habe ich die ganze Zeit geweint und zu Gott gebetet, dass es ein Traum sei und ich gleich aufwache. Ich erinnerte mich an Berichte aus dem jüdischen Holocaust, wie die Opfer in den deutschen Gaskammern übereinander nach oben geklettert wären, um voller Verzweiflung dem Gas zu entkommen. In Halabdscha sah ich viele, die in Gruppen gestorben waren und so wirkten, als hätten sie gemeinsam versucht das Gift nicht einzuatmen.“

Die irakische Armee hat bereits zuvor Giftgas eingesetzt. Insgesamt mindestens 250mal waren im irakisch-iranischen Krieg die iranischen Stellungen mit Senfgasgranaten beschossen worden. Das besondere war in Halabdscha als nicht der Giftgasangriff, sondern die Tatsache, dass eine zivile Stadt angegriffen wurde. Oder wie die New York Times danach schrieb: „Es war seit dem Holocaust die einzige Gelegenheit, bei der Giftgas gegen Frauen und Kinder eingesetzt wurde“. Es blieb nicht bei Halabdscha. Im Zuge der Kurdenverfolgung sind ca. 40 Chemiewaffeneinsätze nachgewiesen worden. Das alles ereignete sich 1988.

In den folgenden Monaten stritt das US-Außenministerium den Gasangriff ab bzw. schob das Verbrechen dem Iran zu. Wir erinnern uns, dass Saddam Hussein damals der westlicher Verbündete im Krieg gegen das Mullah-Regime war. Auch die Türkei wiegelte ab. Türkische Ärzte wurden von der Militärjunta angewiesen, offensichtliche Giftgassymptome bei kurdischen Flüchtlingen aus dem Irak als Zeichen der „Unterernährung“ zu diagnostizieren. Aber die Bilder waren in der Welt. Der Iran hatte das Kriegsgebiet geöffnet und die Aufnahmen der im Todeskampf Erstickten gingen um die Welt. Kurdinnen und Kurden wurden so vielleicht das allererste Mal in ihrer Geschichte eine tatsächliche Weltmeldung.

Deutsches Giftgas und deutsche Profiteure

Die deutsche Öffentlichkeit wusste nicht viel, die Politik wiegelte ebenso ab. medico international gehörte mit anderen Solidaritätsgruppen zu jenen, die bereits im Jahr 1988 die Frage nach der Verantwortung stellte. medico schaltete in Tageszeitungen Anzeigen, die direkt auf den Zusammenhang hinwiesen. Hier ein Zitat das nicht zufällig ein Bonmot des damaligen Bundeskanzlers aufgriff: „Denn die gnadenlosen Spätgeburten der deutschen Todeskultur lieferten die petrochemischen Grundstoffe für jene industrielle Giftküche im irakischen Samarra, aus der die Stoffe stammen, die zur großflächigen Massenermordung eingesetzt wurden“.

Die Firmen aus Deutschland, wie Karl Kolb / Pilot Plant und WET, die die Ausgangsprodukte für die Giftgasproduktion geliefert hatten, behaupteten, dass es sich um Unkrautvernichtungsmittel gehandelt habe. Aber 70% aller Giftgasanlagen im Irak kamen von deutschen Firmen. Später wurde bekannt, dass in den Firmen zahlreiche Mitarbeiter des BND arbeiteten. Deutsche arbeiten an der Weiterentwicklung der SCUD-Raketen und am irakischen Atomprogramm.

All das kam im Laufe der Jahre heraus. 1988 ging es noch um die Aufdeckung. medico lancierte einen öffentlichen Aufruf zum „Geheimnisverrat“ mit einer Telefonnummer, der sich besonders an Mitarbeiter petrochemischer Betriebe und staatlicher Stellen richtete, die mit den Ausfuhrgenehmigungen zu tun hatten. Wer meldete sich? Die Frankfurter Staatsanwaltschaft rief als erstes an um zu fragen, ob sich möglicherweise Personen mit Insiderwissen gemeldet hätten.

Solidaritätsgruppen druckten ein Plakat, auf dem alle Firmenlogos zu sehen waren, die verdächtigt wurden an dem tödlichen Technologiegeschäft zu verdienen. Der bayrische Verfassungsschutz rief die Fimen an und drängte sie darauf Anzeige wegen Verleumdung zu stellen. Die Firmen verzichteten wohlweißlich.

In der Zeit von 1988 bis 1991, also in der Zwischenzeit bis zum 2. Golfkrieg, in dem Saddam Hussein erst zur „Persona non Grata““ für den Westen geworden war, wurden all diejenigen, die das Verbrechen und die deutsche Verwicklung in Halabdscha öffentlich anklagten, selbst Opfer von Verfolgung. Damals war die Unterstützung Husseins politisch gewollt, das Außenwirtschaftsgesetz lax formuliert und „im Zweifelsfall zu Gunsten des Freiheitsprinzips“ auszulegen. Zudem galt die Dual-use-Regel: Wenn Geräte sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden konnten, wurden sie genehmigt. Und es fehlte auch nicht an dem notwendigen Zynismus. So sagte Dieter Backfisch, Sprecher der Kolb-Pilot Plant einmal: "Für die Leute in Deutschland ist Giftgas eine ganz furchtbare Sache, Kunden im Ausland stört das nicht".

Das alles änderte sich erst mit dem 2. Golfkrieg im Jahre 1991. Auf einmal titelte die BILD-Zeitung: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ und nannte die Liste der deutschen Firmen. Es war übrigens das einzige Mal, dass es ein medico-Anzeigentitel auf die Titelseite der Bildzeitung schaffte. Wurde jemand verurteilt in Deutschland? Nein, alle Verfahren gegen die Firmen verliefen im Sande. Die Toten von Halabdscha hatten für deutsche Manager keine Folgen. In späteren Prozessen gab es Freisprüche. Etwa gegen die hessische Karl Kolb AG. Warum? Gutachter waren sich nicht einig, ob die Kolb-Anlage ausschließlich für die Herstellung von Giftgas geeignet war - oder auch für Pflanzenschutzmittel. Nur – und es ist ein böser Scherz – medico wurde mit einer Geldstrafe verurteilt. Wir hatten ein medizinisches Antidot gegen Giftgas nach Kurdistan geschmuggelt und damit bewusst gegen die Außenhandelsrichtlinien verstoßen.

Syrien: Geschichte wiederholt sich

25 Jahre nach den Ereignissen von Halabdscha sterben im September 2013 mehr als 1400 Zivilisten in der syrischen Kleinstadt Erbin durch das Giftgas Sarin. Anfang der 2000er Jahre hat Deutschland an Syrien Chemikalien geliefert, die auch zur Herstellung von Sarin verwendet werden können. Nach ausführlicher Prüfung der zivilen Nutzung, wie es heißt. Damals galt auch Syriens Präsident Baschar al Assad noch als „guter Diktator“. Die Geschichte wiederholt sich. Doch gelernt wird daraus offensichtlich nicht.

Veröffentlicht am 23. Oktober 2013

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